
Wut ist eine starke Emotion, die Kinder und ihre Eltern nicht selten vor Herausforderungen stellt. Sie kann sich ganz verschiedenartig zeigen: vom Fäusteballen über Tür zuschlagen zu schimpfen und beleidigen hin zu weinen oder schlagen und beissen.
Kindliche Wut ist in vielen Familien ein grosses Thema, deswegen wollen wir es hier einmal etwas genauer beleuchten.
Wut ist gut
Wie jedes andere Gefühl ist Wut wichtig und in Ordnung. Ein Mensch darf wütend sein und seine Wut zeigen. Kinder dürfen wütend sein! Wut setzt viel Energie frei und steht oft im Zusammenhang mit der Verletzung von persönlichen Grenzen oder mit individuellen Wertehaltungen. Es ist aus unterschiedlichsten Gründen immens wichtig, dass Kinder wissen und spüren, wo ihre persönlichen Grenzen sind, und dass sie sich wehren können und dürfen, wenn die Grenzen verletzt werden.
Wut ist in vielen Fällen für andere sichtbar. Das unterscheidet sie von einigen anderen Emotionen, die von aussen schwer identifizierbar sind. Sogar sehr stille und nach innen gekehrte Kinder zeigen ihre Wut - sei es durch wortloses Weggehen oder einen regelrechten Wutausbruch. Das ist eine gute Sache, weil das uns Erwachsenen die Unterstützung erleichtert. Gefühle, die wir gar nicht sehen und wahrnehmen, können wir mit den Kindern schlechter thematisieren.
Leider ist Wut sehr negativ behaftet. Viele Kinder hören häufig, sie sollen nicht so oft wütend sein. Das Problem ist: das Auftreten von Emotionen können wir Menschen nicht kontrollieren. Sie kommen einfach. Punkt. Was wir kontrollieren können, ist wie wir mit den Emotionen umgehen und wie wir sie zeigen. Es ist wichtig, dass Kinder darin unterstützt werden, ihre Emotionen - darunter auch die Wut - auf eine für sie gesunde und für die Gesellschaft akzeptable Art und Weise zu zeigen. Aber bitte denken wir dabei daran, dass Lernen bedeutet, Fehler zu machen, immer wieder zu probieren, mit kleinen Schritten Richtung Ziel zu kommen und auch mal Rückschläge zu erleben. Es ist nicht fair, wenn wir von Kindern erwarten, bereits "angemessen" mit Wut umgehen zu können.

Wut ist herausfordernd
Was fordert uns an der kindlichen Wut so sehr heraus? Was macht sie so schwierig für uns?
- unterschiedliche Bedürfnisse: eine Herausforderung ist, dass wir Menschen in unserer Wut sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben. Die einen benötigen viel Zuwendung, Nähe und Zuspruch, während andere allein sein möchten. Einige sagen, sie möchten allein sein, jedoch nur, weil es ihnen peinlich ist, vor anderen wütend zu sein, und eigentlich würde ihnen Nähe helfen. Manchen hilft es, nach der grossen Wut darüber zu sprechen, bei anderen löst genau das sofort den nächsten Wutausbruch aus. Herauszufinden, welche Art der Unterstützung dem eigenen Kind wirklich hilft, kann eine Weile dauern - und vielleicht verändern sich mit dem Alter auch die Bedürfnisse des Kindes und wir müssen umlernen.
- Verletzung der eigenen Grenzen: nicht selten sagen Kinder verletzende Sachen zu ihren Eltern, wenn sie wütend sind, schlagen oder beissen sie, machen etwas kaputt oder sind "frech". Dadurch werden die Grenzen der Eltern verletzt und sie sind dadurch gefordert, mit ihren eigenen Emotionen angemessen umzugehen.
- schwierig einzuordnen: manchmal können die Eltern die Wut des Kindes schlicht nicht einordnen. Weshalb hat mein Kind jetzt diesen heftigen Wutausbruch - ich habe absolut keinen Auslöser wahrgenommen. Wieso reagiert mein Kind auf dieses für mich kleine Ereignis mit einer derart grossen Wut?
- Öffentlichkeit: wie bereits erwähnt, ist Wut meistens auf irgendeine Art und Weise sichtbar. Für viele Eltern ist es ein grosser Stress, wenn ihr Kind beispielsweise vor anderen Eltern seine Wut auslebt, insbesondere, wenn es noch tief im Lernprozess steckt, auf welche Arten Wut gezeigt werden kann.
- Gesellschaft: Wut und ganz besonders kindliche Wut ist in der Gesellschaft nicht gut angesehen. Leider ist es tatsächlich sehr viel akzeptabler, dass ein erwachsener Mann auf offener Strasse jemanden anschreit, als dass ein Kind aus Wut laut schreit. Was absolut keinen Sinn macht, aber das hat mit der allgemeinen Stellung der Kinder in der Gesellschaft zu tun. Wir Menschen orientieren uns an den Werten der Gesellschaft, in der wir leben. Das ist normal und überlebenswichtig für uns, jedoch kann es auch Stolpersteine bergen, wenn unsere persönliche Werte (wie bspw. Verständnis für mein Kind haben) mit jenen der Gesellschaft (wie bspw. ein Kind soll seine Emotionen ständig unter Kontrolle haben) kollidieren.
- Mitgefühl: oft sind Kinder, die gerade sehr wütend sind, in einer Not. Sie verlieren sich beispielsweise völlig in ihrer Wut und kommen aus dem Schreien, weinen und schlagen schier nicht mehr heraus. Wenn die Eltern merken, dass ihr Kind gerade in einer Not ist, kann das sehr schwierig auszuhalten sein, und löst in den Eltern wiederum viele Gefühle (wie Hilflosigkeit zum Beispiel) aus.
- andere Emotionen: manchmal sind Kinder eigentlich verletzt, traurig, unsicher oder ihnen ist etwas peinlich, wenn sie Wut zeigen. In diesen Fällen überspielt die (gut sichtbare) Wut die anderen Gefühle der Kinder.
Es gibt ganz vieles an der kindlichen Wut, was für Eltern und erwachsene Bezugspersonen herausfordernd ist. Die Auflistung ist nicht abgeschlossen - der eigene Umgang mit Wut, persönliche Erfahrungen mit der Wut anderer Menschen, die eigene Kindheit, Rollenbilder - das alles und noch mehr beeinflusst, wie sehr wir durch die kindliche Wut herausgefordert werden.

Unterstützung in der Wut
Wie aber gelingt es, das Kind im Umgang mit seiner Wut zu unterstützen? Worauf kannst du als Mutter, Vater, Lehrperson, grosse Schwester, Onkel achten, damit sich wutgeladene Situationen entspannen können?
- versuche, gut darauf zu achten, was dem Kind in seiner Wut gut tut. Dazu musst du mutig sein, ausprobieren und dir das Ergebnis für das nächste Mal merken. Das Kind kann dir im Moment der Wut nicht erläutern, was es jetzt gerade braucht und was du tun sollst - es braucht dich und dein Handeln. Beispiele: "Ich merke, du bist sehr wütend. Komm, wir umarmen uns ganz fest. Ich habe dich lieb!", "Ich merke, du bist sehr wütend. Ich will dich nicht stören in deiner Wut. Ich bin hier in der Küche, wenn du mich brauchst, darfst du kommen oder mich rufen.", "Ich merke, du bist sehr wütend und enttäuscht. Lass uns zusammen laut auf den Boden stampfen! Das könnte helfen.", "Ich habe gehört, dass du allein sein willst, und das verstehe ich. Ich warte hier vor deiner Tür, du sollst wissen, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst."
- spiegle dein Kind, das heisst, benenne, was du siehst und hörst. Das sind in den Beispielen oben immer die ersten Sätze. Dein Kind fühlt sich dadurch gesehen und verstanden und es hilft ihm, seine Emotionen besser einzuordnen.
- schick dein Kind nicht weg. Kinder brauchen die emotionale Unterstützung und Nähe der Eltern oder Bezugspersonen. Sie mit ihren Emotionen ganz alleine zu lassen, ist meiner Meinung nach nicht ok. "Geh auf dein Zimmer und komm wieder, wenn du dich beruhigt hast" vermittelt deinem Kind, dass es so, wie es gerade ist, nicht in Ordnung ist, und du nur ein ruhiges Kind gerne magst und um dich haben willst. Das hat einen grossen negativen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl und auf die Entwicklung gesunder Copingstrategien. Wenn dein Kind gerne allein sein möchte in seiner Wut ist das in Ordnung - dann ist es aber seine Entscheidung und es wird nicht von dir weggeschickt, und dann soll es unbedingt immer wissen, dass es zu dir kommen oder dich rufen kann, auch wenn die Wut noch voll da ist. Deinem Kind seinen Raum lassen, wenn es ihn fordert, ist etwas ganz anderes, als es wegzuschicken.
- bleib immer in der Beziehung. Gerade kleinere Kinder können unheimlich wütend sein auf die Eltern und sie beispielsweise hauen und sagen "du blöder Papa!" und in der nächsten Sekunde auf den Schoss krabbeln, weil sie in ihrer Wut getröstet werden wollen. Das ist ok! Wir sind dazu da, unsere Kinder emotional aufzufangen und zu unterstützen, ganz egal, was sie gerade getan oder gesagt haben. In einem solchen Moment die Unterstützung zu verweigern, ist ein momentaner Beziehungsabbruch. Das wäre unfair und schädlich für die gesunde Entwicklung des Kindes.
- das Kind lieben, aber die Handlung ablehnen. Was ich im oberen Punkt beschrieben habe, heisst jedoch nicht, dass sich Eltern einfach schlagen und beleidigen lassen sollen. Eine solche Handlung abzulehnen ist richtig und wichtig, schliesslich sollst du unbedingt auch deine Grenzen wahren können und dein Kind soll lernen, welche Handlungen in Ordnung sind und welche nicht. Wichtig dabei ist aber, dass das Kind immer spürt, dass es bedingungslos geliebt wird und gut so ist, wie es ist - auch wenn es wütend ist. "Stopp, ich will nicht, dass du mich schlägst." oder "nein, ich bin kein blöder Papa und ich will nicht, dass du sowas zu mir sagst" oder "es war nicht gut, den Stift kaputt zu machen" sind Sätze, die die Handlungen klar ablehnen, aber in keiner Weise das Kind als Person. "Also wirklich, dass du immer alles kaputt machen musst!" oder "ach, ich bin ein blöder Papa?! Dann bist du ein blödes Kind!" hingegen sind Sätze, die das Kind als Person herabsetzen oder ablehnen
- kontrolliere deine Emotionen. Wie ich bei den Herausforderungen beschrieben habe, löst die kindliche Wut bei Erwachsenen oft auch ganz viele Emotionen aus. Sei das ebenfalls Wut oder Hilflosigkeit oder welches Gefühl auch immer - gib dir Mühe, in diesem Moment deine Gefühle angemessen zu kontrollieren. Dein Kind hat gerade überbordende Emotionen und braucht deine Unterstützung. Atme durch, geh innerlich einen Schritt zurück und ordne eure Rollen ein. Das wird dir helfen, in deiner Rolle als Mutter/Vater (oder welche Rolle du hast) zu bleiben und entsprechend zu handeln. Wir Erwachsenen tragen in Erwachsenen-Kind-Beziehungen immer die Verantwortung und somit ist es unsere Verantwortung, uns in solchen Momenten zu kontrollieren. Nein, es gelingt nicht immer und das macht dich nicht zu einem schlechten Elternteil. Aber es sollte unser Bestreben sein, dass es gelingt, und wir sollten die Grösse haben, uns angemessen zu entschuldigen, wenn es uns einmal nicht gelungen ist.
- fordere keine Rationalität ein. Wenn dein Kind in seiner Wut ist, kann es nicht rational mit dir diskutieren. Es kann dir in diesem Moment nicht genau sagen, weshalb es auf die vielleicht harmlose Situation so heftig reagiert oder wieso es nun schon zum dritten Mal einen Wutausbruch hat. Wenn es sein muss, könnt ihr später darüber sprechen. Dein Kind braucht in seiner Wut Unterstützung, alles Rationale kann später kommen.
- setze Prioritäten. Wer ist dir persönlich wichtiger: die Leute im Bus oder dein Kind? Die Schwiegereltern oder dein Kind? Ich denke und hoffe, die Antwort wird immer lauten "mein Kind". Also, auch hier durchatmen, innerlich einen Schritt zurückgehen und wissen, dass es wichtiger ist, dein Kind im Umgang mit seiner Wut zu unterstützen, als seine Wut zu unterdrücken, um negative Bewertungen anderer Leute zu entgehen. Viele Leute sind weit weg von ihrer eigenen Kindheit und haben wenig Wissen über kindliche Entwicklung - zum Glück hast du Verständnis für dein Kind und bist für es da.
- lebe Umgang mit Wut vor. Zeige ruhig, wenn du wütend bist, und zeige dabei, welche guten, gesunden und gesellschaftlich akzeptierten Möglichkeiten es gibt, die Wut zu zeigen. Kinder lernen viel am Vorbild und die Eltern sind lange Zeit die grössten und einflussreichsten Vorbilder. Wenn du in deiner Wut herumschreist, gegen Möbel kickst und andere beleidigst, kannst du nicht erwarten, dass dein Kind bessere Möglichkeiten findet...
- zeige Verständnis und Akzeptanz. Es ist schon ein grosser Vorteil, wenn Kinder wissen, dass alle Gefühle in Ordnung und normal sind. Wenn dein Kind spürt, dass du verstehst, dass die Wut manchmal kommt, und dass du verstehst und akzeptierst, dass dein Kind noch am Lernen ist, wie man mit Wut umgehen kann, wird es ihm helfen, einen gesunden Umgang mit dieser Emotion zu entwickeln.
- Thematisiere die Wut in ruhigen Momenten. Wenn dein Kind zu Wutausbrüchen neigt, kann es hilfreich sein, wenn du in friedlichen und ruhigen Momenten über Wut sprichst, deinem Kind Geschichten zum Thema Wut erzählst oder mit ihm im Spiel Wut aufgreifst. So kann einerseits dein Kind vielleicht neue Strategien kennenlernen oder auch die Seite der anderen verstehen ("es ist nicht schön für den Bären, beschimpft zu werden, auch wenn die Eule wütend ist") und du lernst vielleicht mehr über dein Kind und was es in seiner Wut von dir benötigt ("dem Igel geht es wie mir, er fühlt sich ganz allein, wenn er wütend ist").

Auch diese Liste ist nicht abschliessend, wie du dir sicherlich denken kannst. Vielleicht hilft es auch zu wissen, dass kindliche Wut und Wutausbrüche in ganz vielen Familien ein Thema sind und für viele Eltern jeden Tag aufs neue eine grosse Herausforderung sind.
Mit Liebe, Verständnis und Da-sein ist schon viel getan - wie gut, dass das sowieso zu den Hauptaufgaben der Eltern gehört ;-)
Ich wünsche dir viel Zeit zum da sein, Kraft zum Stress wegatmen und dass du mit deinem Kind einen wunderbaren Lernprozess gehen kannst.
Mut zur Wut!
Herzlich
Flurina